Leben in Geschichte(n)
Der Ort, an dem ich lebe, schreibt sich gerade in mich ein. Mein Widerstand ist nur hinhaltend, weil mich interessiert, wozu dieser Ort fähig ist. Gleichzeitig schreibt sich die Gemeinschaft in drei schnörkellose Varianten von TW58 ein. TW58 bedeutet, Traditioneller Wohnungsbau, also noch Hochlochziegel und keine Plattenbauweise. Wie jeder umbaute Raum sind auch unsere Wohnräume für bestimmte Zwecke entworfen, Wohnträume einer anderen Zeit. Wir haben diese versteinerten Träume zu einem Teil aufgebrochen, um für den Traum von einem Leben in Gemeinschaft Luft zu schaffen, eine große Küche mit Kochinsel, ein großer Raum fürs Reden oder Schweigen. Es gibt auch Räume in diesem Haus, die wir nicht verändern, sondern einfach anders nutzen, eine Speisekammer für Alle etwa. Manchmal verstehen wir nicht, was passiert, wenn eine Tür zugemauert wird, und aus einem Raum jegliche Fantasie einer möglichen Nutzung entweicht. Vieles in diesem Haus wartet noch auf Menschen, die seine Möglichkeiten entdecken wollen und damit ihre Zeit verbringen. Das Haus atmet wieder, in verschiedenen Rhythmen, nachdem es jahrelang links liegen blieb als Echo einer anderen Zeit, manche sagen: Notdurftarchitektur. Wir haben uns selbst Strukturen geschaffen, die den Alltag begleiten und ihm eine Richtung geben sollen. Wir sind so verschieden, dass ich immer wieder staune, wie Mauerdurchbrüche, gemeinsame Abendessen, Bodenverbesserungen für den Gemüseanbau rund um das Haus, Baumpflanzungen und vieles mehr gelingen.
Das Haus selbst ist prosaisch, es gibt hier keine Legenden zu finden, keine alten Berufe wiederzubeleben, aber möglicherweise ist dies ein Vorteil. Wir müssen uns hier neu erfinden. Und letztlich ist die agrarindustrielle Produktionsweise, welche die Menschen und die Landschaft (ver-)nutzte, nicht untergegangen. Sie hat sich gewandelt, ohne zu verschwinden und umgibt uns mit den enormen Weiden und Feldern, den dafür geschaffenen riesigen Maschinen im Rhythmus der Jahreszeiten. Es ist schwer, hier zu leben und zu arbeiten, ohne das Lied der großen Industrie zu singen oder Männer in Berlin und Frauen und Kinder hier zu sehen, mit allen Folgen. Ich erwähne dies, weil es einen verklärten Blick auf die beeindruckende Landschaft korrigieren soll: Natur, die nie einfach Natur ist, sondern durch Menschen gestaltete Natur, auch unsere eigene Natur. Und wir stehen gerade an der Schwelle einer neuen Zeit, in der wir uns ungeahnten Risiken gegenüber sehen.
Indem wir uns mit dem Haus befassen, arbeiten wir uns in seine Geschichte ein und werden Teil dieser Geschichte. Alte Fresken sind hier nicht zu entdecken, doch die Reste der Erstanstriche mit pastelliger Kreidefarbe könnten auch von Jackson Pollock hingeschludert sein. Uns liegt daran, die ästhetischen Dimensionen der Geschichte dieses Hauses freizulegen und mit unseren Gestaltungen zu konfrontieren.
Manches verläuft auch im uckermärkischen Sand, manche Mühe ist vergeblich, auch das gehört zu einem Leben in Gemeinschaft und will ertragen werden. Zwei Steinwürfe von unserem Haus entfernt liegt das alte Gutshaus. Die Auffassungen über gut und richtig, die beide Häuser repräsentierten, waren zu ihrer Zeit unvereinbar. Heute stehen die Häuser nebeneinander, bilden einen Hintergrund, vor dem wir unsere eigenen Lebensgeschichten hineinweben, bis Atropos uns alle einholt. Bis dahin werden noch viele Geschichten zu erzählen sein…