Ich backe gerne Brot. Dafür brauche ich Mehl. Ich ziehe die unterste Schublade heraus, um zu sehen, dass es alle ist. Ich mache mich also auf den Weg in unsere gemeinsame Speisekammer. Unsere Wohnung liegt im dritten Stock, die Speisekammer im Erdgeschoss des mittleren Aufgangs, ein paar Treppen und der Weg von der 7 in die 6 liegen vor mir. Einen Stock tiefer sitzt der Kater He-man vor der Tür und wartet. Ich drehe den Schlüssel der Wohnungstür im Schloss und lasse ihn in die Wohnung. Mir wird wieder mal bewusst, wie sehr ich es genieße, dass wir hier die Türen nicht absperren müssen. Und vielleicht ist das auch schon ein Bild für unser Zusammenleben. Türen werden respektiert, und gerade deswegen schließen wir sie nicht ab. Gemeinschaft und Abgrenzung, ein großes Thema.
Eine Treppe tiefer treffe ich Lisa, die gerade aus der Gästewohnung kommt und zu einem Spaziergang an den See aufbricht. Sie ist übers Wochenende mit ihrer Tochter Isi zu Besuch. Lisa trägt noch ihre speziellen, osteuropäischen Hausschlappen, die sie nur in Neudorf trägt und wir lachen beide. Eine weitere Treppe tiefer trete ich vor das Haus. Milo, der in einiger Entfernung auf der Bank im Gebüsch sitzt ruft laut über den Platz: „Na, Flo?“ Ich weiß nicht was ich antworten soll und rufe deswegen zurück: „Na, Milo?“ Fiebi hat den Kompressor in Betrieb und pustet seine diversen Werkzeuge durch. Ich freue mich, weil der Kompressor einmal meinem Vater gehörte und jetzt einen anderen Ort gefunden hat. Hier in Neudorf finden viele Dinge eine neue Bestimmung und Wertschätzung.
Olli und Felix spielen Tischtennis, ich bekomme sofort Lust und steige ein, Dirk kommt auch noch dazu, es wird ein knappes Match, am Ende gewinnen Olli und ich. Wir klatschen uns ab und ich freue mich darüber, dass sich Felix freut, obwohl er verloren hat. Die Tischtennisplatte haben wir vor einem halben Jahr gemeinsam angeschafft und sie gehört für mich schon jetzt zu den besten Investitionen aller Zeiten.
Auf dem Weg in die Küche treffe ich Siegi, der mich informiert, dass er um 16 Uhr aus Jonathan Frantzen lesen wird und die Kinder, die mich fragen ob ich weiß, wo die Canasta-Karten sind. Endlich in der Küche angekommen begegnet mir Ettore, unser italienischer Gast. Er ist gerade aufgestanden und ißt eine Birne. Ich liebe die Gespräche mit ihm. Wir geraten in kürzester Zeit in eine mäandernde Auseinandersetzung über seinen Philosophieprofessor Severino und was dessen Denken mit dem Leben in Neudorf zu tun hat. Der kleine Tisch mit den zwei Stühlen, der in der Küche unter dem Gewürzregal steht, ist einer meiner Lieblingsplätze hier. Überhaupt, die Küche. Sie ist einer dieser Orte, die mich staunen lassen. Diesen Raum haben wir gemeinsam geschaffen. In einem Haus, das ursprünglich einem ganz anderen Zweck dienen sollte. Gemeinschaft statt Vereinzelung, Großzügigkeit statt verdichtete Funktionalität.
Dann aber endlich führt mein Weg in die Speisekammer. Ich ziehe den 25 Kilo Mehlsack unter dem Regal hervor und freue mich zum wiederholten Mal über die kleine Mehlschippe aus Holz. Sie ist für mich die Verkörperung des perfekten Werkzeugs. Sie gleitet mit einer Mühelosigkeit ins Mehl, die mich immer wieder innehalten läßt. Wie alt sie wohl ist? Wer sie wohl schon alles in den Händen hielt? So wie die Mehlschippe ist, will ich gerne leben. Einfach und schlicht, aufs Wesentliche reduziert. Davon bin ich weit entfernt, aber jeder Gang in die Speisekammer erinnert mich daran.
Mit meinem Glas Mehl trete ich den Rückweg an. Dabei treffe ich Alex, die sich mit mir für später im Genossenschaftsbüro verabredet, sehe Mischka, die mit Mika zusammen die Kräuter gießt, Ulrike kommt mit nassem Haar vom See, Sandra haucht mir vom Schmetterlingshügel einen Kuss zu, Emil fällt von der Slackline und vielleicht passieren noch ein paar andere Dinge. Dann die Treppen rauf und ich bin wieder in der Wohnung. Brotbacken wollte ich. Ich war knappe zwei Stunden unterwegs, um Mehl zu besorgen.
Gemeinschaft und ich als Individuum, dieses Verhältnis auszuloten ist eine tägliche Aufgabe. Ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem, was ich will und dem, was entsteht, wenn ich mich auf die Schönheit und Untiefen des Miteinanders einlasse, ist das möglich? Manchmal bin ich vollkommen ratlos und erschaudere vor der Aufgabe, die Widersprüche des modernen Menschen in so verdichteter Form leben zu sollen. Oft aber weiß ich, dass es ohnehin keine Lösung gibt und dann sehe ich die Vielfalt und den Reichtum meines Lebens hier.
Jetzt backe ich mein Brot. Ohne Mehl kein Brot. Es gibt wahrlich geradlinigere Wege an Mehl zu kommen. Aber vielleicht geht es darum gar nicht.